Der Toyota Weg und Toyota KATA
Wie passt das zusammen?
von Jeffrey Liker, übersetzt und kommentiert von Tilo Schwarz
Der Toyota Weg fasst das Managementsystem zusammen, das Toyota im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt hat, wohingegen Mike Rothers „Toyota KATA“ Übungsroutinen beinhaltet, um die Entwicklung einer wissenschaftlichen Denkweise zu starten. Sind diese beiden Ansätze kompatibel oder müssen wir uns für einen entscheiden, an den wir glauben? Darüber scheint es einige Verwirrung zu geben.
Tilo Schwarz: Vor einigen Jahren lernte ich den amerikanischen Professor Jeffrey Liker persönlich kennen. Er ist Forscher und Autor von „The Toyota Way“, dem 2004 veröffentlichten Bestseller über das Managementsystem, welches hinter dem kontinuierlichen Erfolg von Toyota steht. In den USA erschien soeben eine aktualisierte zweite Auflage dieses Buches. Bei einem unserer Gespräche habe ich kürzlich von einem neuen Artikel erfahren, den er über die Neuauflage geschrieben hat. Jeff hat mir freundlicherweise erlaubt, den Artikel hier mit Ihnen zu teilen!
Seit über 35 Jahren studiere ich Toyota und Mike war mein Student an der University of Michigan. Wir beide führen oft lange Diskussionen beim Kaffee – so habe ich tiefen Einblick in beide Ansätze. Meine Schlussfolgerung: Während ich aus meinen Erkenntnissen über Toyota grundsätzliche Management-Prinzipien abgeleitet habe, ist Mike in einen praktischen Zugang zu einem der Kernaspekte eingetaucht – die Entwicklung einer wissenschaftlichen Denkweise in Organisationen und Teams außerhalb von Toyota.
Mike beobachtete viele Toyota Manager und Coaches bei ihrer Arbeit und leitete daraus die Verbesserungs-KATA ab, sein Modell einer wissenschaftlichen Denkweise. Dann ging er über das konzeptionelle Modell hinaus, um anderen zu helfen, selbst eine solche Denk- und Vorgehensweise zu entwickeln; durch einen altbekannten Ansatz für Transfer und Erlernen komplexer Fähigkeiten – bewusstes Üben!
Auf Basis unserer Gespräche und meiner Überlegungen wie diese Dinge zusammenpassen, habe ich das grundlegende 4P-Modell des Toyota Wegs geändert und eine wissenschaftliche Denkweise in den Mittelpunkt gestellt. Das mag neu und vielleicht theoretisch erscheinen, ist zugegebenermaßen aber sehr konsistent mit den Lehren von Toyota; sogar bis zurück zum ersten TPS-Handbuch von Taiichi Ohno, wo er schreibt: „Vor Ort ist es wichtig, mit dem tatsächlichen Phänomen zu beginnen und nach der Ursache zu suchen, um das Problem zu lösen. Mit anderen Worten, wir müssen Wert darauf legen, die Fakten zu bekommen.“
Später erklärte Hajime Ohba, einer von Ohnos Schülern: „TPS ist auf der wissenschaftlichen Denkweise aufgebaut…. Wie gehe ich mit diesem Problem um? Es gibt keinen Werkzeugkasten. [Man muss] bereit sein, klein anzufangen und durch Versuch und Irrtum zu lernen.“
In die gleiche Richtung zielt auch Rothers Definition einer wissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweise für die Praxis; anwendbar von jedem, nicht nur von promovierten Wissenschaftlern:
- Sich bewusst sein, dass unser Verständnis immer unvollständig und möglicherweise falsch ist.
- Davon ausgehen, dass Antworten eher durch Testen und nicht nur durch Nachdenken gefunden werden.
- Bereit sein, aus dem Unterschied zwischen dem was wir vorhersagen und dem was tatsächlich passiert zu lernen und unser Vorgehen entsprechend anzupassen.
Tilo Schwarz: Der Begriff wissenschaftliche Denkweise kann missverständlich sein. Manche verbinden ihn eher mit einem Wissenschaftler im Labor, der Grundlagenforschung betreibt oder abstrakte Modelle entwickelt. Jeff erklärt dazu in seinem Buch: Im Grunde versuchen wir Menschen zu befähigen, auf wissenschaftliche Art und Weise zu arbeiten und dadurch schwierige Ziele zu erreichen. Es geht um eine „praktische wissenschaftliche Denkweise“.
Mike wollte über eine Erläuterung der Prinzipien wissenschaftlichen Denkens hinausgehen und entwickelte Toyota KATA – einen Ansatz basierend auf täglichem Üben. In japanischen Kampfsportarten, wie Karate, sind KATA Übungsroutinen für Grundfertigkeiten, die der Meister dem Lernenden durch eine Art Coaching beibringt, bis dieser die jeweilige Fertigkeit ausreichend beherrscht. Darauf baut dann die nächste KATA auf und die nächste und die nächste… Mit der Zeit geht der Lernende dazu über, einzelne Bewegungselemente so zusammenzusetzen, wie es die Situation in einem Kampf erfordert.
Eine neue Denkweise will geübt sein
Nicht genau zu wissen, Unsicherheit zu akzeptieren und die Zukunft nicht vorhersehen zu können, ist für viele von uns unangenehm. Deshalb müssen wir eine wissenschaftliche Denkweise üben, idealerweise mit einem Coach. Alle unsere Fähigkeiten und Denkmuster entspringen unserem Gehirn. Routinehandlungen wie Autofahren, sind miteinander verbundene Bündel von Neuronen, die wir aufrufen können, ähnlich wie Computer Subroutinen aufrufen.
Das Problem: Unsere natürlichen Subroutinen verleiten uns, voreilige Schlüsse zu ziehen und auf bekannte Lösungen zu springen, statt ein Problem oder Hindernis bewusst zu durchdringen, die Ist-Situation zu verstehen und mehr wie ein Wissenschaftler vorzugehen. Im Zuge von Problemlösungs- Trainings gab es viele Ratschläge damit aufzuhören und stattdessen systematisch eine Reihe von Schritten des Plan-Do-Check-Act zu durchlaufen.
Klar ist aber, dass es nicht reicht, Menschen nur zu erklären, was sie tun sollen und mehrtägige Workshops genügen ebenfalls nicht, um neue, unserer Intuition konträre, neuronale Verbindungen zu schaffen. Es ist verlockend, einen einfachen Weg zu suchen, uns von diesen Denkgewohnheiten zu befreien.
Was in unserem Gehirn verankert ist, lässt sich aber nicht löschen wie die Dateien auf einer Festplatte. Stattdessen müssen wir neue neurologische Verknüpfungen aufbauen und sie durch regelmäßiges Üben verstärken, bis sie zu unserem natürlichen Vorgehen werden. Die alten, eingefahrenen Muster treten mehr und mehr in den Hintergrund, da wir sie nicht benutzen. Die neuen, zunächst langsamen, Denkmuster werden immer effizienter und fühlen sich mehr und mehr natürlich an. Wir üben bewusst einen neuen Weg und „verdrahten“ dabei unser Gehirn neu.
Toyota legt den Fokus auf Lernen durch Tun. Theorie allein wird nicht hochgeschätzt. Das ist richtig, denn um ein neues Muster in unseren Köpfen zu verankern, brauchen wir wiederholtes Üben. Nur dann bilden sich starke neuronale Verknüpfungen. Der Umfang an Neuem, den unser Gehirn auf einmal aufnehmen kann, ist jedoch begrenzt und kleiner als wir vielleicht vermuten. Zwanzig Minuten pro Tag sind ein guter Richtwert. Deshalb sind kurze, tägliche Übungsintervalle über mehrere Monate viel wirkungsvoller, als lange Übungseinheiten von morgens bis abends, wie wir sie aus Management-Intensivtrainings oder einwöchigen Kaizen-Events kennen.
Neurowissenschaftler haben gezeigt, dass Verhalten und Denken miteinander verbunden sind. Wenn wir etwas tun, wird es als Bündel von Neuronen und Synapsen, die die Neuronen verbinden, kodiert. Wenn wir etwas regelmäßig tun, wird dieser Schaltkreis effizienter und schließlich zu einer neuen Gewohnheit. Gehen wir also ein Problem an indem wir voreilige Schlüsse ziehen, ist es wahrscheinlicher, dass wir in Zukunft immer wieder auf diese Weise vorgehen. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, können wir bewusst und mit Hilfe einiger Starter-KATA wiederholt ein wissenschaftliches Vorgehen üben. Mit der Zeit verändert dies unsere Denkweise und macht es wahrscheinlicher, dass unsere Teams herausfordernde Ziele auf eine effektivere Weise angehen.
Kombinieren wir all dies, landen wir beim Modell der Verbesserungs-KATA und den damit verbundenen Übungsroutinen (Starter- KATA), die in einer Coach-Lerner-Beziehung geübt werden. Toyota scheint dies auf natürliche Weise zu tun, ohne großes Skript für den Coach. Einem Toyota-Manager wird eine wissenschaftliche Denkweise und ein Führen durch Coaching von Beginn an beigebracht. Manager außerhalb Toyotas brauchen wahrscheinlich ein Schema, um diese Fähigkeiten bewusst zu üben.
Genau dazu hat Mike uns die Verbesserungs-KATA zur Verfügung gestellt – einschließlich einer Reihe von Übungsroutinen, oder „Starter-KATA“, für jede Stufe des Modells. Toyota KATA ermöglicht die Entwicklung einer wissenschaftlichen Denkweise in unseren Teams strukturiert zu starten und dann zu skalieren. Das ist hilfreich, weil in vielen Organisationen eine wissenschaftliche Denkweise noch nicht in der Kultur verankert ist.
Tilo Schwarz: Ich finde das faszinierend: Jeden Tag 20 Minuten on-the-job in einer Coach-Lerner-Beziehung zu üben. Das ist konträr zu vielen Trainingsprogrammen, die mir begegnet sind.
Toyota KATA als Katalysator
Bedeutet dies, dass Toyota KATA den Toyota Weg ersetzt, weil jetzt die wissenschaftliche Denkweise im Mittelpunkt steht? Sicherlich nicht. Die 4P des Toyota Weges spiegeln ein modernes Managementsystem wider, das mehr ist als ein wissenschaftliches Mindset. Es beginnt mit kollektiver Klarheit über die langfristige Philosophie und die Kernwerte, die das gesamte Unternehmen leiten. Was ist der Zweck der Organisation? Was ist unsere gemeinsame Vision, wie wir das Unternehmen betreiben wollen? Dies muss von allen Managern gelebt und gefördert werden, um zum führenden Element der Kultur zu werden. Es gibt ein technisches „Lean“- Wissen über die Entwicklung von Prozessen in Richtung One-Piece-Flow zum Kunden, das nicht automatisch entsteht, indem wir viel experimentieren. Zudem ist es nötig, alle Verbesserungsbemühungen im Unternehmen auf die Strategie für Produkte und Dienstleistungen auszurichten (hoshin kanri). Wissenschaftliches Denken zu üben, wird nicht automatisch all dies hervorbringen. Eine praktische wissenschaftliche Denkweise und Art der Zusammenarbeit bildet vielmehr eine hilfreiche Grundlage um alle 4P dieses Systemmodells zum Leben zu bringen. Daher habe ich sie in den Mittelpunkt des neuen Modells gestellt. Toyota KATA ist wie ein Katalysator, der die Entwicklung einer wissenschaftlichen Denkweise anregt, die wiederum der Motor für die kontinuierliche Weiterentwicklung des Systems ist und genauso auch Ihr Managementsystem beflügeln kann. Ohne KATA oder einen vergleichbaren Ansatz, der Menschen hilft eine wissenschaftlichere Denkweise zu entwickeln, wird der Toyota Weg wahrscheinlich auf dem Level von Prinzipien ohne Anwendung bleiben. Eine Lektion die wir alle nur zu gut kennen.
Tilo Schwarz: Es reicht also nicht aus, Menschen aufzufordern, auf eine neue Art und Weise zu handeln. Wir brauchen auch einen Ansatz zur Entwicklung der benötigten Fähigkeiten und Denkweisen und des dazugehörigen Führungsverhaltens. Ich glaube diesen Aspekt haben wir bisher bei unseren Change- Management-Bemühungen oft übersehen oder zumindest nicht ausreichend berücksichtigt.